Monday, August 17, 2009

in passing: Locarno 2009

liegengebliebenes

Sham moh / At the End of Daybreak (Ho Yuhang, 2009)

In der ersten Einstellung fällt etwas ins Wasser. Was das ist, kann man nicht genau erkennen. Wie in Götz Spielmanns Revanche wird erst kurz vor Schluss geklärt was da warum ins Wasser geworfen wurde. Bis dahin hat der Film einige, bei weitem nicht immer vorhersehbare Wendungen genommen. In schönen, tendenziell dunkel-warmen Bildern entwirft Ho Yuhan zunächst ausführlich den Ort: eine malaiische Kleinstadt, dann aus diesem heraus die Liebesgeschichte zwischen dem 23-jährigen Slacker Chai und der 15-jährigen Schülerin Ying. Dazwischen: Tiere; Mäuse, Katzen, Fische. Wenig bereitet einen auf das vor, was passieren wird, wenn Yings Eltern ihre Anti-Baby-Pille entdecken und die Beziehung auffliegt.
At the End of Daybreak hält sich an die Regeln des panasiatischen Kunstkinos, allerdings tut er dies auf unprätentiöse, entspannte und trotz allem zumindest etwas eigensinnige, humorvolle Art (in einer großartigen Einstellung taucht wie aus dem nichts mitten im malaiischen Kleinbürgerwohnzimmer ein Weltraum-Videospiel auf).
Wenn da alles am Ende doch nicht so ganz funktioniert, dann liegt das wahrscheinlich am Mangel an Konsequenz in den einzelnen Filmabschnitten, deren Positionierung zueinander doch ein wenig unklar bleibt. Ähnlich wie in Revanche in letzter Konsequenz manches doch überdefiniert ist, bleibt hier vieles unterdefiniert.

Un transport en commun, Dyana Gaye, 2009

Ein mittellanges Musical aus Senegal. Der Plot bleibt spärlich: Ein Sammeltaxi fährt von Dakar nach St. Louis, im Mittelpunkt stehen der Taxifahrer, die Passagiere mit ihren jeweils sehr unterschiedlichen Interessenlagen und ihre Beziehungen untereinander. Das erste Bild zeigt einen chaotischen Parkplatz. Es geht dem Film dann darum, ein wenig - aber wirklich nur wenig - Ordnung in dieses Chaos zu bringen, einige Orientierungspunkte im gegenwärtigen, postkolonialen Schwarzafrika zu setzen. Kurz darauf ertönt aus einem Autoradio Opernmusik und bald danach taucht das Alleinstellungsmerkmal des Films auf: die Musicalsequenzen mitsamt Tanzchoreografie. Diese beginnen jeweils fast aus dem Nichts, als Einleitung dient zB ein vehementer Schlag mit der Faust aufs Taxi. Musikalisch hölt Gaye, die die größtenteils sehr gelungenen Lieder allesamt selbst geschrieben hat Abstand von world-music-Ethno-Blödsinn und orientiert sich an Swing- und Pop-Formeln. Die Szenen bleiben trotz des dezidiert Alltäglichen an ihnen immer so artifiziell, dass sie mehr zeigen als nur Afrikaner, die ihre naturgegebene Neigung zum Tanz ausleben.
Ganz unterschiedliches stellt Gaye mit diesen Sequenzen an: Mal gibt es aufwändige Tanz-Choreografien, mal singt einer in einer wehmütigen Ballade von Italien, dem Land seiner Träume, während er gleichzeitig eingequetscht bleibt im engen Taxi, das wiederum eingequetscht bleibt im hoffnungslos aus dem Ufer laufendenen senegalesischen Straßenverkehr. Es gibt auch Trauer- und Liebeslieder (an letzterem ist ein Weißer beteiligt, der ethnografische Feldforschung zu betreiben scheint). Am Ende löst sich der Film im Straßenalltag von St. Louis auf.
Auch Un transport en commun hat mich nicht völlig überzeugt, meine Unsicherheit rührt vielleicht daher, dass der Film trotzt der erwähnten Raffinesse der Musicalnummern sich dem exotizisierenden (?) Blick etwas zu leicht fügen könnte. Aber andererseits: Dieser Blick ist einer des europäischen Betrachters, einer, für den der Film nichts kann und vor dem er sich eigentlich nicht zu verantworten braucht.

Waga seishun no Arukadia / Space Pirate Captain Harlock: Arcadia of My Youth, Tomoharu Katsumata, 1982

Ein Film der Anime-Retrospektive. Ganz großartig der Anfang: zunächst nur schwarze Leinwand, die ab und an erhellt wird durch einige Blitze, dann das Cockpit eines Kampfflugzeugs, in einer langen, rein poetischen Szene fliegt das Flugzeug über Wolkenverhangene Berge, dann tauchen halluzinatorische Rosen auf (im Animationsfilm allerdings gibt es auf der Bildebene von vorn herein keinen ontologischen Unterschied zwischen realem und halluzinatorischen und genau das macht derartige Szenen so großartig), am Ende beginnt der Berg zu lachen.
Im Anschluss entwickelt der Film einen aufwändigen space-opera-Plot, verteilt über unterschiedliche Planeten. Die anscheinend tendenziell ausufernde fiktionale Welt, in der der Film spielt und die hauptsächlich in Fernsehserien ausgeführt wird, kenne ich ansonsten nicht. Es scheint sich um eine sehr sonderbare zu handeln. Darauf verweist vor allem eine Rückblende in das titelgebende Arkadia, das eine (irritierenderweise positiv konnotierte) Version Nazideutschlands zu sein scheint. Urplötzlich tauchen Hakenkreuze auf dem Flugzeug des Helden auf, es gibt dann eine - wiederum hervorragend inszenierte - Luftschlacht an der arkadisch-schweitzer Grenze ("Heiligenstadt"), die Explosionen schwappen als bloße rote Farbe über die Leinwand; wahnsinnig schön, diese Filme müssen unbedingt öfter auf 35mm gezeigt und gesehen werden!
Der restliche Film entwirft seine Geschichte mit jeder Menge Pathos, aber auch das hat mir fast immer gefallen. Es gibt eine Frau ohne Mund, aber mit Stimme, ein eindeutig phallisches Raumschiff, das eruptiv durch die Erde gen Himmel bricht, Menschen, die rückstandslos in Flammen verdunsten und vieles mehr. Manches davon lässt man als Franchise-Outsider über sich ergehen, ohne den blassesten Schimmer zu haben, was da genau vor sich geht ("Let's challenge the Owen-Stanley-Witch of Space!"), aber im großen und Ganzen hat mir der Film viel Freude bereitet.

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