Wednesday, March 09, 2011

Berlinale 2011: Himmel und Erde, Michael Pilz, 1982

Himmel und Erde will zuerst eine möglichst komplette, vielseitige Bestandsaufnahme einer Existenzform sein, die oft wie aus der Zeit gefallen scheint. Äcker werden umgepflügt, die Saat wird eingepflanzt, schließlich wird geerntet. Die Technik, die zum Einsatz kommt, könnte teilweise direkt aus dem Mittelalter stammen: von Pferden gezogene Pflüge und Eggen, nur wenig Motorisiertes, die Kartoffeln sammelt die Bauersfrau von Hand ein. Zwei Schweine werden vor der Kamera geschlachtet, immer wieder wird die Milch ausgefahren, einmal geht es zur Viehauktion, es gibt religiöse Feste, eine Beerdigung. Dazu Aufnahmen der einfachen, funktionalen Dingwelt der Bergbauern - Türen, Fensterrahmen, Scharniere und so weiter - sowie von alltäglichen Gesten, außerdem stilisierte Bewegungsstudien vor allem der kleinen Kinder beim Spiel, des Jungen auf der Autoreifenschaukel.

Zwischen und neben den Beobachtungen stehen verschiedene Formen von Selbstinszenierungen der Gefilmten, Eingriffe des Süjets in, Übergriffe auf den Film. Einen Bauer fragt Michael Pilz, wo er denn am liebsten sein Porträt aufgenommen hätte. Vor dem Hof, meint der alte Mann, im Hintergrund sollen auch die Berge und ein Bergsee zu sehen sein. Er könnte auch sagen: vor meinem ganzen Leben möchte ich gefilmt werden. Im zweiten Teil wird dieser Moment noch einmal aufgegriffen, detaillierter wird gezeigt, wie sich der Alte die Bildkomposition vorstellt.

Es gibt auch kompliziertere Anordnungen, die spielerisch soziales Selbstverständnis verhandeln. In der Schule: zwei Jungen sollen den ersten Teil eines Theaterprojekts aufführen. Später sollen andere, erklärt der Lehrer, an das, was sie tun, anschließen. Der eine der beiden sitzt auf einem Stuhl, hat einen Bleistift wie eine Pfeife zwischen den Zähnen. Das ist der Großvater. Der andere steht seitlich hinter ihm und beginnt, wild auf ihn einzureden. Das ist der Vater. Der Vater fordert den Großvater auf, das Haus zu verlassen, es sei kein Platz mehr, die Mutter werde bald “niederkommen”, es gebe keinen Platz mehr für den Alten. Der Großvater sieht das nicht ein. Es gebe doch das Bett, auf dem könne er doch schlafen. Das Bett, sagt der Vater, das müsse raus. Das geht so eine Weile, keiner der beiden Jungen gibt sich so schnell geschlagen, der Wortwechsel wird zunehmend abstruser; schließlich gibt es einen Schnitt auf einen alten Mann, einen echten Großvater, mit Pfeife im Mund. Das ideologische Selbstverständnis entsteht erst und offenbart sich ausschließlich im Spiel, in der performativen Verdopplung von Lebenszusammenhängen, an denen nie ihre Ursprünglichkeit interessiert. Eine sonderbare Form von Ideologiebildung ist das, erst recht, wenn man sie in Zusammenhang sieht mit der körperlosen Voice-Over-Stimme, die spirituell-konservative Philosophie rezitiert, dabei aber niemanden anruft, sondern sich als Emanation der Bilder selbst gibt.

Es gibt im letzten Drittel des Films einige vermeintlich natürliche Schließungen. Die Ernte ist eingefahren, einer der Porträtierten ist gestorben, lange zeigt Pilz einen Beerdigungszug. Himmel und Erde will dann ganz am Ende aber doch nicht einfach auf den vollendeten Erntezyklus = Lebenszyklus hinaus. Statt dessen gibt es eine Serie von Rückbezügen auf frühere Szenen und Momente im Film, Wiederbefragungen einzelner Körper, Worte, Töne.

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