Wednesday, May 18, 2011

Ödenwaldstetten, Peter Nestler, 1964 (Filme gegen Deutschland 1)

Ödenwaldstetten liegt 30 Autominuten von Reutlingen entfernt in der Schwäbischen Alb, lerne ich. Auf google maps finden sich einige Fotografien, auf denen man zumindest den Kirchturm wiederfinden kann, der auch im Film zu sehen ist. Außerdem gibt es zwei Aufnahmen eines Gebäudekomplexes, das traditionell-bäuerlich geprägte Architektur (funktional noch in dem Sinne, dass die Gebäudebestandteile tatsächlichen, lebenswirklichen Funktionen zugeordnet sind) und die im banaleren Sinne funktionale (=möglichst unspezifische) Bauweise der Gegenwart vereint. Das Alte ist nur noch als Pittoreskes vorhanden bzw auch nur als soches vorstellbar (das zeigen die Kommentare zu den Fotos auf google maps), hat keinen Gebrauchs-, nur noch Ausstellungswert; tatsächlich steht heute in Ödenwaldstetten ein Bauernhausmuseum. Heute müsste man, das suggeriert das google-maps-Bild, das ist aber auch meine eigene Erfahrung, wenn ich derartige Orte besuche, tatsächlich Archäologie betreiben, wollte man in der materiellen Welt der Gegenwart etwas von dem wiederfinden, was Peter Nestler 1964 auf 16mm-Material festgehalten hat. Nach meiner Erinnerung war das noch in den Achtziger Jahren etwas anders; einen mir wichtigen Zugang zum Film finde ich über diese Achtziger Jahre, über die Erinnerung an Sommer- und sonstige Ferien, die ich damals in einem anderen, aber in vieler Hinsicht ähnlichen Dorf bei meinen Großeltern verbracht habe (und genau in den Achtziger Jahren, genauer 1986, also ungefähr zu dem Zeitpunkt meiner frühesten bewussten Erinnerungen, hat Nestler eine Fortsetzung gedreht: Ödenwaldstetten 2, irgendwann werde ich mir den Film anschauen müssen, im Moment habe ich fast Angst vor ihm). Natürlich hatte das Dorf in den zwei Jahrzehnten seit den Sechzigern, analog zu Ödenwaldstetten und gemäß dem Untertitel des Nestler-Films, sein Gesicht massiv verändert. Keine Gemeindebäckerei mit Holzofen mehr, keine Lastpferde, keine Gemeindeschule. Aber es gab damals noch: die Milchkannen, die alten Traktoren, die Sensen, die Scheunen (genau diese Scheunen), die hölzernen Gartenzäune.
Und es beschränkt sich nicht auf die bloßen Verbindungslinien, die die Erinnerung erzeugt. Der Film trifft mich auch als Erkenntnis, dass ich vom Dargestellten lediglich eineinhalb Generationen entfernt bin und zwar sowohl "historisch" betrachtet (also wie jeder andere Bewohner dieses Landes meines Alters), als auch in Bezug auf meine eigene Familiengeschichte. In den spielenden Mädchen (in allen, aber dann wieder in jedem Einzelnen, in jeder Frisur und in jedem Kleid, auch in dem zielgerichteten Ehreiz, der sich in den wilden Bewegungsdrang mischt - und dann, aber erst auf den zweiten Blick, in manchen mehr als in anderen) erkenne ich meine Mutter wieder. (Und großartig ist dieses Kinderspiel gefilmt, es wird nie so ganz klar, wie das Geschlechterverhältnis aufgelöst ist, ob die Jungs gemeinsam mit den Mädchen spielen, oder ob es eine Trennung gibt, es scheint, als würden da gerade Grenzziehungen neu ausgehandelt). Vermittelt über Familienfotos ist mein Erkennen, natürlich, trotzdem hat das Wiedererkennen eine derart unmittelbare Evidenz, dass es da nicht nur um piktoriale Ähnlichkeit gehen kann, da spielen auch meine eigenen Erfahrungen bestimmter Orte und Situationen eine Rolle (als ein "elastisches Gewebe, das sich nur langsam ändert" beschreibt Kracauer bestimmte Dimensionen des Alltagslebens, in Filmen wie dem Nestlers, kann man, glaube ich, die spezielle Zeitlichkeit dieses Gewebes sehr direkt erfahren).
Die Erfahrungsdimensionen (das Brot im Holzofen), die der Film erschließt, sind Vorbedingungen für alle Diskursivierungen, ja schon für die starke Formung, der Nestler sein Material unterwirft. Ob sich das eine organisch aus dem anderen ergibt, der Diskurs aus der Erfahrung,ist eine andere Frage, vielleicht keine besonders wichtige, weil eine zu ungenaue. Ob es das überhaupt tun sollte, wäre eine dritte, vielleicht eine wichtigere, aber ein Film alleine kann darauf keine Antwort geben. In Ödenwaldstetten weichen die dialektgefärbten Bauernstimmen mehr und mehr der hochdeutsch artikulierten Sprecherstimme (wobei Reste des Dialekts mitgenommen, aber sozusagen lexikalisiert werden, als bloße Silbenauslassungen zum Beispiel, die nicht mehr Sprache-als-sedimentierte-Erfahrung sind), es gibt noch genug Wirklichkeit in den Bildern, aber keinen zwingenden (nicht-zeichenhaften) Zusammenhang mehr zwischen Sprache, Arbeit und Welt. Später fällt ein einfacher Satz: "Kehren tut man nur am Samstag, damit's am Sonntag sauber aussieht" direkt nach Aufnahmen jüdischer Grabsteine und gnadenlosen Ton-Bild-Verschränkungen, die die Präsenz des Holocausts in der Schwäbischen Alb der Sechziger verorten. Der Satz ist auch deshalb so hart, weil er von Aufnahmen fegender Hausfrauen begleitet ist und weil es da nicht um eine zynische Pointe geht, sondern um eine Metapher, die sich der Kamera sozusagen von selbst darbietet. Ähnliches gilt für die Schlusseinstellung und den Satz, der sie begleitet.
(Verbindungen sehe ich zu dem gleichermaßen großartigen Cheyenne Autumn: John Ford findet psychotische Massenmörder am Ort der Tradition und zwar genau in dem Moment, in dem dieselbe - als historische, aber auch als Genretradition - aufbricht. Trotzdem benötigt er erst einmal Bilder von sinnlicher Erfahrung, von Gemeinschaft, von gelebtem Leben, auch deshalb gibt es diese ausführliche, mit dem Rest der Handlung nicht tonal und nicht narrativ kompatible Wyatt-Earp-Sequenz.)

3 comments:

Denis K. said...

Kurzer Hinweis: es heißt "Schwäbische Alb", mit "b" :)

Lukas Foerster said...

huch danke, das weiß ich theoretisch natürlich auch, ich bin nicht allzu weit von ihr aufgewachsen...

Denis K. said...

Dito!