Tuesday, October 23, 2012

Vincere, Marco Bellocchio, 2009

Begeistert hat mich auch Vincere, obwohl ich andererseits durchaus nachvollziehen kann, warum der Film damals nicht so rundum positiv aufgenommen wurde wie vorher Boungiorno, notte. In seiner extremen Stilisierung - das digital intermediate, durch das der Film in der Postproduktion hindurchgejagt wurde, hat ihm nicht gut getan - und seinem ich denke schon auch programmatischen Verzicht auf alle Subtilitäten (schon beim ersten Sex mit Ida Dalser reckt der junge Benito Mussollini seine lustverzerrte, effektvoll ausgeleuchtete Mine solange und so ausdauernd gen Kamera, dass die Verbindung von Libido und faschistischer Ikonografie einen regelrecht anspringt; die großartige Krankenhausszene wurde dann später im Kino nervös weggelacht) schließt er an Bellocchio todernst gemeinten Sleaze-Arthaus-Hybriden der Achtziger an - von denen ich bisher allerdings nur La visione del sabba kenne, aber es kommt mir schon so vor, als ob in dieser wirren, gleichwohl faszinierenden Hexenglorifizierung etwas erprobt wird, was in Vincere dann perfektioniert wird: die Indienstnahme von im engen Sinne exploitativen Bildern für affektvermittelte Kritik. Wie das sexuelle Begehren in La visione del sabba wird auch das einfühlende Mitleiden in Vincere von Anfang an auf- und anschließend nie widerrufen, sondern in Verbindung gebracht mit gesellschaftlichen Kontexten, deren Bruchstellen gerade im Begehren, bzw dem Mitleiden aufscheinen.

Bewundert habe ich in Vincere vor allem auch die Konsequenz, mit der Bellocchio sein eigentlich wahnwitziges Projekt zu Ende führt: Die Verschiebung der großen Männergeschichte auf eine marginalisierte Frau, was auch bedeutet, dass der Film, sobald die Faschisten tatsächlich die Herrschaft übernommen haben, fast ausschließlich in einer psychiatrischen Klinik spielt. Wie es ihm gelingt, den Faschisten im Laufe des Films tatsächlich ihr gesamtes kulturelles Kapital wegzunehmen: die Marschlieder, die erst von den Braunhemden, später dann von den Frauen in der Psychiatrie gesungen werden, die Mussollini-Reden, die gezeigt, aber direkt danach nachgeäfft werden, die Physiognomie der Macht, die sich in der des - vom selben Schauspieler gespielten - illegitimen Sohnes des Diktators spiegelt; und ja tatsächlich auch den Namen "Benito Mussollini" selbst.

Neu sind dagegen in diesem Film, scheint mir, die kinoreflexiven Szenen. Sowohl der Einsatz von Archivmaterial selbst, als auch der andauernde Rückbezug auf die Vorführsituation. Berührt hat mich insbesondere die Chaplin-Vorführung in der Psychiatrie, die Tränen Ida Dalsers beim happy end. Ich glaube, ich habe Bellocchios Film gebraucht, um endlich Chaplin zu begreifen; zu begreifen, dass gerade in dem, was mich immer wieder störte, in dem viktorianischen Melodram, das da so oft und so ausdauernd in die technikgesättigten Slapstickrpoutinen hineinragt, das eigentlich Geniale dieser Filme verborgen ist.

1 comment:

Bert Rebhandl said...

Gestern zufällig bei Eric Rohmer gelesen: "Es war überflüssig, schlecht über Chaplin zu reden, nur um Buster Keaton gut wegkommen zu lassen."